Freitag, 5. September 2008
Als technophiler Bastler, Tüftler und musealer Bewahrer tust Du Dich oft schwer, Dich von Deinen historischen Habseligkeiten zu trennen, und auch die vom Flohmarkt aus Ignorantenhand geretteten Gerätschaften sind Dir meist schnell ans Herz gewachsen. Mehr als die eine gut erhaltene Tonbandmaschine ‑spät erfüllter Traum aus juvenilen Jahren- brauchst aber selbst Du im Digitalzeitalter nicht wirklich, deshalb hattest Du in den Weiten des Internets ein gutes neues Herrchen für sie gesucht. Und als der virtuelle Auktionshammer dann endlich gefallen war, bist Du erfreut und erleichtert gewesen, ließ doch der Zuschlagspreis den echten Liebhaber hinter dem stattlichen Gebot erahnen...
Und der ist wie Du von der schnellen Truppe: Binnen Tagesfrist ist das Geld auf Deinem Konto eingegangen, und statt wie erhofft über’s Wochenende Zeit zum sorgfältigen Verpacken des schweren Apparates zu haben, siehst Du Dich jetzt in Deiner Ehrpusseligkeit verpflichtet, das Gerät noch an heutigen Freitag Nachmittag zur Post zu schaffen. Na gut, denkst Du Dir, das sollte zu schaffen sein, den passenden Karton hast Du ja schon längst organisiert und oben auf dem Dachboden müßten noch zwei gelbe Säcke mit gut abgelagerten Styroporschnitzeln in der Ecke stehen.
In der schwülen Hitze des Speicherabteiles findest Du vergilbende Steuererklärungen und leere Marmeladengläser, allein die vermaledeiten Styroporchips sind nicht aufzutreiben. Langsam dämmert es Dir, daß Du die schon vor Monaten bei einem Deiner letzten Deals aufgebraucht und Dich seither nicht um Ersatz gekümmert hattest. Mist. Was tun? Zerknülltes Zeitungspapier ist keine Lösung bei Ladegut jenseits der 15-Kilo-Grenze, staubende Holzwolle wäre Gift für das feine Gerät, mal ganz davon abgesehen, daß davon längst auch nichts mehr da wäre. Es hilft nichts, es müssen Styroporchips sein. Aber woher nehmen?
Da kommt Dir der erlösende Gedanke: Im Recyclinghof am Rande der Stadt hast Du vor Jahren schon einmal nach diesen Dingern gefragt, und der freundliche Mann in der Latzhose hat Dich seinerzeit nach Gusto zugreifen lassen. Warum sollte das nicht auf’s Neue funktionieren? Du schielst nach der Uhr: Mittag ist schon durch, es geht auf zwei Uhr zu, müßte hinhauen. Also zum motorisierten Untersatz hinuntergerannt und losgebraust...
Der Recyclinghof erweist sich als noch am früheren Ort vorhanden, sein Tor indessen als geschlossen: Freitags ist hier schon um ein Uhr nachmittags Feierabend. Verflixt! Wo kannst Du jetzt noch hin, in die Nachbarstadt vielleicht? Da wüßtest Du nicht mal die einschlägigen Adressen, und die Zeit arbeitet in jedem Falle gegen Dich. Hm. Erfordern nicht besondere Situationen zuweilen besondere Maßnahmen? Du könntest Dich ja zur Not ausnahmsweise selbst bedienen, oder? Du würdest niemandem etwas wegnehmen, keiner käme zu Schaden und ein erneuter Einsatz von Füllmaterial ist allemal umweltfreundlicher als seine noch so vorschriftsmäßige Entsorgung! Hehe.
Du schaust Dich in alle Richtungen um und peilst dann durch einen Schlitz in der aus groben Holzbohlen errichteten Umzäunung: Tatsächlich, dahinten stehen die Behälter mit den sortenrein getrennten Kunststoffen! Und wenn man sich so die ganzen Spuren und Abdrücke an der Umfriedung anschaut, dann wärest Du beileibe nicht der Erste, der hier hinübergeklettert ist. Und die anderen verfolgten mutmaßlich weit weniger hehre Ziele...
Zwar bist Du nie der Sportlichste gewesen, aber der Adrenalinschub des schlechten Gewissens und die Angst vor Entdeckung steigern die Muskelleistung spürbar, mentales Doping sozusagen. Drüben halbwegs elegant gelandet, sicherst Du nach allen Seiten, bevor Du in die offene Halle sprintest. Und plötzlich wähnst Du Dich am Ziel: Vor Dir hängt in einem stützenden Eisengestell ein riesiger Sack aus dicker Plastikfolie, zu zwei Drittel gefüllt mit den ersehnten Styro-Flocken: Hurra!
Du ziehst die zwei mitgebrachten Müllbeutel aus den Hosentaschen und überlegst, wie Du die denn nun am schnellsten vollkriegst. Eine Schippe oder sonst etwas Geeignetes ist nicht in Sicht, darum versuchst Du sogleich, die federleichten Schnipseldinger mit bloßen Händen in Deine Beutel zu stopfen. Aber die lassen sich nicht so mir nichts, Dir nichts umsacken: Im Nu haben sie sich elektrostatisch aufgeladen und »kleben« jetzt an ihren Kumpels, an ihrem großen Sack, an Deinen lächerlichen Tüten und mittlerweile auch an Deinen Armen und auf Deinem T‑Shirt. Und je mehr Du zappelst und strampelst und fluchst, desto schlimmer wird das Spiel: Du kriegst die Chips nicht in nennenswerten Mengen zu fassen, und je ärger Du Dich anstrengst, desto mehr von ihnen haften an Dir und sonstworan.
Nach zwei Minuten heroisch geführten Kampfes mit der Tücke der Objekte siehst Du endlich ein, daß das so definitiv nichts werden kann. Es bleibt als Ausweg nur die Flucht nach vorn: Du mußt den ganzen Bestand in seinem riesigen Auffangsack mitnehmen, sonst stehst Du am Montagmorgen noch hier und bist bis dahin erstens wahnsinnig und zweitens so styropor-weiß wie ein Schneemann. Gesagt, getan: Du rollst den Rand des geradezu unheimlich großen Foliensackes über das Haltegestell, drehst ihn zu und ziehst den fast mannshohen »Ballon« nach oben aus seiner Fixierung...
Na großartig, denkst Du Dir, jetzt fehlt Dir nur noch eine schwarze Augenmaske, dann sähest Du aus wie einer der Panzerknacker aus den Donald-Duck-Heftchen. Har, har, har! Oder auch ho, ho, ho, denn mit dem dicken Sack auf dem Rücken gäbest Du auch eine gute Karikatur eines US-amerikanischen Weihnachtsmannes ab! Doch auch ohne Santa Clausens dichten Bart und dicken Pelzmantel rinnt Dir der Schweiß mittlerweile aus allen Poren...
Du lugst verstohlen von innen über die Bohlenwand und peilst die Lage: rechts ist niemand, von links kommt keiner. Also ab durch die Mitte bzw. erstmal erneut über die Wand geklettert und mit dem Riesenbeutel hinabgesprungen. Schnell zum Wagen gehastet und die Heckklappe aufgefingert. Rein mit dem Sack, zum Henker, warum sperrt der sich so dagegen? Es hilft nichts, der kugelrunde Plastikbeutel ist zwar nicht schwer, aber ausladend, sein Durchmesser deutlich größer als der von Deines Autos Ladeöffnung. Herrschaftszeiten!
Nervöses Stopfen und Treten hilft nicht weiter, mit forscher Gewaltanwendung bringst Du die pralle Folienblase nur zum Platzen und dann ergießt sich der Segen weithin sichtbar über die Landschaft, mit Dir als dem Übeltäter mittendrin. Also tief Luft geholt, den Sack nochmal ganz herausgezogen und mit sanftem Tätscheln links und rechts langsam in die richtige Wurstform geklopft. Nach einer quälend langen Minute ist er endlich drin. Klappe zu, hinter’s Steuer gehechtet und den Motor angelassen. Am Rücken bist Du längst pitschnaß.
Der reflexhafte Blick in den Rückspiegel zeigt nicht die gewohnte Aussicht durch die Heckscheibe, sondern endet nach einem guten Meter am soeben hinten reingestopften Beutegut. Na schön, dann muß man halt mit den Außenspiegeln manövrieren. Aber bewegt sich da nicht etwas im linken? Der Blick trügt nicht, es naht ein anderes Auto. Verflucht nochmal, was will der denn hier um diese Zeit?
Irgendwie kriegst Du die Kurve gekratzt und schaffst um eine alte Lagerhalle herum den Abgang, ohne daß Dir der andere Wagen zu nahe gekommen wäre. Jetzt aber flott wieder nach Hause! Im Fond hinter Dir klopfen an die 20.000 entführte Weichschaumschnipsel um Hilfe rufend an die Seitenscheiben und versuchen stumm schreiend, Passanten auf sich aufmerksam zu machen. So haltet doch endlich die Klappe! Schließlich fährst Du schneidig bremsend vor Deiner Haustür vor.
Der Sack wirkt auf den ersten Blick jetzt etwas flacher. Kein Wunder, durch die Erschütterungen der Fahrt hat er sich dem Innenraum Deines Vehikels gut angepaßt und mag ihn freiwillig nicht mehr verlassen. Du fluchst leise und zerrst zeternd an dem dummen Ding, bis Du es endlich halbwegs heil herausoperiert hast. Autoklappe zu und nun aber schnell ins Haus und weg aus der Öffentlichkeit!
Von wegen: Prall und kugelrund wie der Sack mittlerweile wieder geworden ist, paßt er natürlich auch nicht einfach so durch die Haustür! Leise wimmernd mußt Du ihn ein weiteres Mal massieren, bis er sich endlich in den Hausflur schieben läßt. Irgendwie gelingt es Dir, ihn dann noch drei Stockwerke nach oben zu balancieren, ohne irgendwelche Pflanzen umzukippen oder sonstige Katastrophen anzurichten. Geschafft! Jetzt als allererstes schnell unter die Dusche gesprungen um Schweiß und Schuldgefühle abzuwaschen...
Frisch duftend fühlst Du dich schon wieder deutlich wohler. Binnen einer knappen Viertelstunde ist die feine Tonbandmaschine bestens verpackt und reichlich gegen jegliche Transportfährnisse abgefedert. Es geht doch nichts über die flexiblen Styroporschnitzel, denkst Du dir, und in den nächsten paar Jahren brauchst Du Dir auch keinerlei Sorgen um Nachschub zu machen. Mit geübter Hand läßt Du den Klebeband-Abroller um das Paket sausen, sicherheitshalber noch ein zweites Mal um sämtliche Falze. Dann flugs die Paketkarte ausgefüllt und runter mit der Kiste zum Auto. Na also, es wird doch!
Gelassen fährst Du an der Postagentur vor, es ist noch eine gute Stunde bis zum Ladenschluß. Du wuchtest den schweren Klotz auf die Waage, schäkerst noch ein bißchen mit der Stempelschwingerin und fragst sie verwundert, warum wohl heute so wenig andere Pakete auf der Rollpalette stünden. Weil das Paketauto heute schon durch ist, sagt sie zu Deinem jähen Entsetzen. Unter dem schadenfroh-höhnischen Gelächter der aufgestapelten Telefonbücher schleichst Du Dich aus dem Schalterraum und aus der Affäre...
Samstag, 10. Mai 2008
Es ist ein sonniger Septembertag, der lange Sommer neigt sich unweigerlich seinem Ende entgegen. Du bist dem Feierabendzug federnd entsprungen und strebst zu Deiner Gartenparzelle inmitten der Stadt, eingezwängt zwischen Dieseltank und Prellbock, flankiert von Straße und Bahngeleisen. Ein winziges Stück Natur in der Steinwüste, gepachtet nur und jämmerlich, gleichwohl eine geliebte Oase. Die frühe Kirschenernte war heuer üppig wie nie zuvor, Unmengen Äpfel werden später den Keller füllen, auch sucht die fulminante Zwetschgenausbeute ihresgleichen: Was das alleinstehende knorrige Bäumchen hergegeben hat, füllt jetzt in gelierter Form den stattlichen Gläser-Vorrat und dieser momentan den ganzen Küchentisch. Und noch immer hängen überreife Pflaumen hoch droben in der Baumkrone, unerreichbar für Dich, selbst beim Anstellen einer XXL-Klappleiter. Von dort oben hörst Du es leise Knuspern. Knuspern?
Knusper, knusper, kein Zweifel: da nagt jemand emsig mit scharfen Zähnen an Pflaumenkernen und läßt es sich gutgehen. Doch wer? Vorn fährt ein Zug vorbei, hinten zwei Autos, Du wartest die nächste Lärmpause ab, um die Ohren erneut zu spitzen. Und wirklich, es knuspert immer noch. Du trittst unter den Baum, legst den Kopf in den Nacken und kneifst die Augen zusammen, um nach dem mutmaßlichen Mundräuber Ausschau zu halten. Das Tanzen der Blätter im Windhauch irritiert Dich, doch plötzlich siehst Du die beiden schwarzen Knopfaugen und den braunen Pelz. Die Größe läßt keinen Zweifel zu: Da oben vespert eine Ratte! Klettern Ratten auf Bäume? Offenbar. Noch während Du Dich darüber wunderst, siehst Du das zweite Augenpaar, den zweiten Pelz. Die Herrschaften sind im Duo zugange und genießen die süßen Früchte in luftiger Höhe...
Grundsätzlich hättest Du kein Problem damit, die Gaben der Natur mit den kletterfreudigen Vierbeinern zu teilen, die ja letztlich auch nur ihre Arbeit machen und Dir in zehn Metern Höhe noch nicht einmal etwas wegnehmen. Doch die Seuchengefahr, die von Krankheitserregern im Rattenkot ausgeht, die willst Du natürlich nicht in Deinen Beeten wissen. Und wenn die vermehrungsfreudigen Viecher sich erst einmal in den zahllosen Kabelschächten im Bahngelände eingenistet haben...
Es hilft nichts, die Tiere müssen weg, und zwar ohne jede Chance auf Wiederkehr. Rattengift ist Dein nächster Gedanke, doch ist Dir der Gedanke an den quälenden Tod zuwider. Eine schnellwirkende, sozusagen diabolische Bleivergiftung erscheint Dir allemal als die humanere Vollstreckungsart, zumal sich ein aus dem Blätterdach geschossenes Tier im Gegensatz zum ebenerdig verfolgten nicht mehr schwer verwundet in eine unzugängliche Ecke verkriechen kann, um dort elendiglich zu verenden. Klare Sache, denkst Du Dir: Das Wild wird waidmännisch zur Strecke gebracht!
Laß es bleiben, soufliert Dir da Dein obrigkeitshöriges Beamten-Gewissen, das amateurhafte Bejagen von Wirbeltieren ist verboten und das Herumballern auf nicht vollständig umfriedeten Grundstücken sowieso: Du machst Dich doppelt strafbar! Die Ratten mögen vielleicht zügig in den Rattenhimmel einziehen, Dich zerrt man ihretwegen vor den Kadi! Du ringst mit Dir und Deiner Gesetzestreue, derweilen es in der Baumkrone fröhlich weiter knuspert. Dein Blick verfinstert sich, der archaische Jagdtrieb bricht sich Bahn: Du weißt jetzt, was Du zu tun hast...
Ohne noch einmal nach oben zu schauen, läufst Du geradewegs aus der Parzelle und schnurstracks heim zur Wohnung, wo Du das Luftgewehr unter dem Sofa hervorziehst. Der Staub auf der Schachtel ist zentimeterdick. Du wischt ihn ab, nimmst das Gewehr heraus und schiebst acht bleierne Turnier-Diabolos in das Trommelmagazin Deines spanischen Repeaters. Kurze Sichtinspektion des frei verkäuflichen Sportgerätes: paßt. Alles wieder eingepackt, eine Decke zur Tarnung darübergewickelt und hurtig damit zurück zum verkehrsumtosten Schrebergärtlein. Mit nunmehr geübten Blick ist der Gegner rasch erspäht, Knuspern freilich ist von ihm nicht mehr zu hören. Die Schachtel hingelegt und die Waffe entnommen.
Du lehnst Dich und Dein Gewehr an die schäbige Gartenhütte und peilst in die Höhe. Hier geht es nicht um sportliche Haltungsnoten: Wenn Du schon töten mußt, dann soll es schnell und schmerzlos gehen. Das Tier scheint die drohende Gefahr zu wittern und verharrt regungslos. Die Taktik ist nicht schlecht, denn was sich nicht rührt, fällt auch nicht auf. Leichter Wind läßt die Blätter flirren und verschleiert das Ziel. Teufel auch! Du versuchst, den braunen Klecks im Blättergrün, den Du für den pelzigen Gegner hältst, auf Kimme und Korn aufsitzen zu lassen. Das Geschehen gewinnt an Dynamik, Deine innere Erregung steigt, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Dein Zeigefinger krümmt sich langsam um den Abzug...
Plang. Der Rückstoß ist doch stärker als gedacht, aber wer den Schaft richtig zu halten weiß, dem prellt es nicht das Schulterblatt. Indes zeigt der Schuß keine Wirkung. Daher flugs den Lauf geknickt und durchgeladen, trotz nicht vorhandener Übung bist Du schon Sekunden später erneut im Anschlag. Jegliches Zaudern wäre kontraproduktiv.
Plang. Diesmal tut sich etwas, es raschelt im Blattwerk, und schon fällt ein dunkler Schatten aus der Baumkrone. Hinab! Die Ratte ist noch viel größer als gedacht, doch für Neugier ist jetzt nicht die Zeit. Klick-Klack macht der Lauf, und kaum eine Sekunde nach dem Aufprall des getroffenen Tieres stehst Du auch schon daneben und setzt aus nächster Nähe den Fangschuß. Vorbei. Der stattliche Nager mit dem enormen Schwanz scheint friedlich zu schlummern. Die winzig kleinen Blutspritzer, die die Illusion zerstören, sieht man erst auf den zweiten Blick.
Fünf Schuß sind noch im Trommelmagazin, doch auch der zweite Delinquent soll nicht länger als nötig leiden müssen. Drum sicherheitshalber schnell wieder vollgeladen und Position bezogen. Bringen wir es hinter uns. Die zweite Ratte ist kleiner und nicht leicht auszumachen. Ob sie wohl ahnt, daß auch ihr die Kugel angetragen werden soll? Du bist inzwischen ganz ruhig, auch das Töten ist letztlich ein Handwerk, bei dem sich beängstigend schnell Routine einstellt. Wieder zielst Du minimal tiefer, um den Aufwärtsruck des Rückstoßes auszugleichen.
Plang. Du horchst gespannt, doch nichts deutet auf einen Treffer hin. Klick-klack, das Durchladen geht Dir mittlerweile bereits dermaßen routiniert von der Hand, als wärest Du darauf gedrillt worden. Plang, schon geht der nächste Diabolo zwischen die Zwetschgen. Da raschelt es wieder, und während Du den Knicklauf durchdrückst und die Feder spannst, fällt das zweite Tier vom Himmel und landet keinen halben Meter von seinem Vetter, Bruder oder Vater entfernt im Gras. Plang, auch hier beendet ein fast aufgesetzter Fangschuß eventuelles Leiden.
Du bist erleichtert, das grausige Werk ist vollbracht. Kein verletztes Tier hat sich quälen müssen, und angesichts der Schußrichtung steil nach oben hast Du auch nichts und niemanden gefährdet. Du verscharrst die Leichen hinter dem nahen Prellbock und packst Dein Gewehr sorgfältig wieder ein. Die Vögel singen, ein blendend weißer ICE rauscht gen Nürnberg. Knuspern tut niemand mehr.
Während Du unter der Dusche stehst beschleicht Dich ein eigenartiges Gefühl, als würdest Du Schuld von Dir zu waschen versuchen. Wie schnell der nüchterne Verstand und die von Dir gern hochgehaltene Humanität der archaischen Erregung des Tötens weichen kann! Wie mag es erst sein, wenn die Waffen großkalibriger und gegenüber fanatisiserte Menschen sind, die ihrerseits den Finger am Abzug haben? Da bist Du heilfroh, von derlei Geschehnissen ganz, ganz fern zu sein...
Leise erst, doch immer lauter und klagender hörst Du Deine Opfer wimmern. Hast Du letzendlich doch gepfuscht, die armen Tiere nur verwundet und in vorübergehende Schockstarre versetzt? Kein Zeifel, sie piepsen anklagend aus ihrem frischen Grabe. Doch wie mag das angehen? Du bist längst daheim, die Fenster sind zu und bis zum Garten sind es mehrere Dutzend Meter hin? Wer fiept in Dir?
Knuff macht es in Deiner weichen Seite, der Ellenbogen Deiner besseren Hälfte trifft Dich höchst unvermittelt. Du reißt verstört die Augen auf: Neben Dir piepst kein waidwundes Nagetier, sondern der nervige Funkwecker. Aus der Traum, die Arbeit ruft! Dein Weltbild stabilisiert sich wieder: Ratten auf dem Pflaumenbaum, das war Dir ja von Anfang an suspekt erschienen...
Montag, 28. April 2008
Es ist wieder mal einer jener Montage, an denen ständig die Telefone rufen und Du am Nachmittag reichlich gestreßt aus dem Büro fliehst, ohne in den mehr als acht Stunden am Platz auch nur annähernd zu dem gekommen zu sein, was Du Dir eigentlich für heute vorgenommen hattest. Alles ist dringend, jeder hat ein unaufschiebbares Anliegen, es gibt nirgends mehr Reserven und doppelte Böden, und so sehr Du auch verzweifelt versuchst, die Fäden zusammenzuhalten, so wenig spielen das Leben und die Zwänge da draußen mit. Irgendwann geht es nicht mehr. Da läßt Du Dich in das weiche Sitzpolster Deines Feierabendzuges fallen und schaust nach dem Himmel: Natürlich, ausgerechnet jetzt zieht es sich zu.
Aber bis zum Regen sind es bestimmt noch zwei Stunden hin, und so beschließt Du spontan, den Zug nicht wie gewohnt in der Heimatstadt zu verlassen, sondern noch etwas weiter ins Umland hinaus zu fahren, in jenes Städtchen, wo es eine große Verkaufshalle mit Sachen gibt, die andere ausgemustert und einem guten Zweck zuliebe gespendet haben. Des einen Last kann des anderen Lust sein. Eine gute Ablenkung zudem, vielleicht findet sich ein schönes altes Teil für die Küche oder die gute Stube, und warum auch nicht...
Bis zum Ort der nostalgischen Verheißungen ist es nicht weit, doch bleibt die Exkursion ohne Folgen für Heim und Geldbeutel. Na, ist auch nicht verkehrt. Doch wie die Zeit bis zur Abfahrt des nächsten Zuges in Richtung Stadt verbringen?
Die Frage ist eine rein rhetorische, denn der einsame Ort am Rande der Siedlung ist voller Erinnerungen für Dich: vor genau 25 Jahren hast Du nach abgeschlossener Ausbildung und bestandener Prüfung hier den Frühling und Teile des Sommers im Stellwerk gesessen, nachmittags, früh und nachts. Später warst Du in die Unfallbereitschaft einbezogen und durftest während einer ganzen Woche den Bereich der Hauptdienststelle nicht verlassen: Da drüben im Güterschuppen hattest Du Deine Luftmatratze aufgeblasen und den knorrigen alten Chef verwünscht, der seine eigenen Bereitschaftstage wie selbstverständlich weit außerhalb auf seiner »Ranch« verbrachte.
Die rostigen Ladegleise sind längst demontiert, einzig das Überholungsleis und die Abzweigung der Nebenstrecke haben dem Wind der Reform bis heute standgehalten. Vor der morschen Rampe am Güterschuppen liegen keine Schienen mehr im Schotter, dafür hängen Gardinchen hinter den maroden Fenstern. Das mächtige Empfangsgebäude hat zwei Jahrhundertwenden gesehen, bis auf die in den Orbit schielenden Blechteller sieht die Sandstein-Fassade aus wie ehedem.
Du schlenderst durch die triste kleine Wartehalle: Der Boden grau, Wände und Türen desgleichen. Alles grau. Das ehemalige Schalterfenster ist notdürftig verschlossen, hier schieben nur noch Automaten Dienst. Ein einziger Mitarbeiter aus Fleisch und Blut – der Fahrdienstleiter – sitzt weiterhin im Glaskasten am Bahnsteig 1, vermutlich im unveränderten Rhythmus von nachmittags, früh und nachts. In zweieinhalb Stunden kommt sein Ablöser.
Du klopfst an die Scheibe, zeigst Dein Konzernplastikteil vor und bittest um die Gunst einer Ortsbesichtigung. Und schon bist Du mitten drin, ein Schritt nur, doch ein Vierteljahrhundert weit...
Der alte Stelltisch, das Streckenband, die Lichter, die Tasten. Rote Leuchtbalken markieren die Züge, sie springen von einem Abschnitt in den nächsten, von Weckerschnarren oder sanftem Klingelschlag begleitet. Es riecht immer noch nach feinem Öl, uralten Papieren und bahnamtlichem Bohnerwachs. Die selbstgebastelte Fliegenpatsche aus einem Bambusstöckchen und einem Lederflicken indes existiert nicht mehr. Vor der Sichtscheibe und dem Fliegengitter flirrt die warme Luft des Frühlingsabends.
Zu Deiner Zeit gab es weder Selbststellbetrieb noch signalisiertes Fahren auf dem »falschen« Gleis, jede einzelne Fahrstraße mußte manuell eingestellt werden. Zwar nicht mehr mit Muskelkraft wie auf den alten mechanischen Stellwerken, doch hatte man auch als Knöpfchendrücker gut zu tun. Des Nachts konnte man verbotenerweise eine Durchfahrt »auf Vorrat« aufziehen, dann hatte man zwischen zwei einsamen Expreßgüterzügen für ein gutes Stündchen Ruhe. Dösen freilich war nicht gestattet und im Grunde auch gar nicht möglich: Auf dem langen Streckenabschnitt des Spurplan-Tisches war immer irgendetwas am Blinken, Achszähler zählten hier die einfahrenden Radsätze und dort die ausfahrenden, bei Übereinstimmung gaben sie den Abschnitt wieder frei. Alles wohl ausgeklügelt und in der Regel störungsfrei und zuverlässig funktionierend, doch wehe, wenn der Blitz einschlug und die Zählerei durcheinanderbrachte: Dann blieben die Abschnitte feuerrot und es galt, den nahenden Zug abzuwarten und sein eigenäugig beobachtetes Schlußsignal an den Kollegen streckauf zurückzumelden, derweilen sich dahinter die folgenden Züge an den Halt zeigenden Blocksignalen zurückstauten. Frachtstücken und Schüttgütern war das einerlei, betroffende Reisende freilich beschwerten sich hinterher gern über das, was letzlich nur zu Ihrer Sicherheit ersonnen ward...
Das alles ist Dir mit einem Male wieder unerhört präsent, Dein nächtliches Spiegelbild in der Fensterscheibe, die provozierende Langsamkeit des Uhrzeigers während der Nachtschichten, auch Dein schweißnasses Hochfahren aus unruhigem Schlaf, als Du im Traum die drei grellen Spitzenlichter bewegungslos vor dem Einfahrsignal zu sehen glaubtest und plötzlich ganz sicher warst, kurz eingenickt gewesen zu sein und den Schnellzug ohne Grund hingestellt zu haben, ein Fall für die Sofortverfolgung und ohne eine plausible Ausrede zur Hand. Passiert ist Dir das nie, aber die Träume quälten Dich noch, als Du schon längst nicht mehr im Glaskasten Dienst tatest. Von der realen Katastrophe, dem Totalausfall der Technik an einem Werktagmorgen, hast Du merkwürdigerweise nie geträumt, obwohl damals alle Lämpchen und Telefone wie irre geblinkt haben und Du wie ein KO-geschlagener Boxer mit einem Handtuch um den Nacken vor Deinem nutzlosen Instrumentarium gesessen bist...
Aber jetzt schaust Du Dir teils amüsiert, teils tief berührt den alten Arbeitsplatz an, der nicht wie die Neubauten voll aktueller Technik steckt, sondern mit einem Sammelsurium sondergleichen gefüllt ist: Der museale Stelltisch aus den 1960ern ist flankiert von modernen Monitoren, kein tickernder »Hellschreiber« spuckt mehr meterlang gummierte Papierschlangen zum nassen Aufkleben auf A4-Blätter aus, statt Streckenfernsprechern mit Kurbel gibt es längst digitalen Zugfunk. Aus einer handgesägten Öffnung in der alten Holzverkleidung lugt ein PC heraus. Alles recht komplex zusammengestückelt und doch voll innerer Logik. Betriebsverfahren, oft mit Blut geschrieben, weil erst tragische Unfälle die verbliebenen Lücken im Regelwerk offenbar gemacht haben.
Du wünscht Dir plötzlich, Deine gegenwärtige Arbeit wieder gegen den Posten des Fahrdienstleiters einzutauschen, und sei es nur einen Sommer lang: Kaum hat der Ablöser im Meldebuch unterschrieben, geht einen das alles so lange nichts mehr an, bis man selber wieder auf der Matte steht und die Dienstübernahme quittiert. Auch nach vier Wochen Abwesenheit warten keine Aktenberge und hundertachtzig rote Mails, hier gilt es immer nur die Gegenwart zu bewältigen, das ist Herausforderung genug. Kein Gedanke an Projekte, Termine und Meilensteine schleicht sich in den Feierabend oder ins Wochenende, hier bleibt die Arbeit am Arbeitsplatz, auch wenn der Schichtdienst nicht jedermanns Sache ist. Und die Deine ebenfalls nicht, wenn Du ehrlich bist... Doch was hast Du in den zweieinhalb Dekaden seither erreicht?
Die halbe Stunde ist schnell verplaudert, der nette Kollege kennt so manchen Namen den Du hervorkramst noch aus der eigenen Erinnerung. Da kommt auch schon Dein Regionalexpreß um die Kurve, wenn Du den ziehen läßt, mußt Du länger warten und wirst am Ende doch noch naß. Also verabschiedest Du Dich rasch und fährst wieder zurück. Auf dem Heimweg schaust Du noch bei jemandem vorbei, merkst aber, daß Dich die vordergründig heitere Stippvisite von vorhin immer noch beschäftigt. Der Himmel wird dunkler, die ersten Tropfen fallen. Also nun endlich ab durch die Mitte, einen Schirm hast Du ja nicht mitgenommen. Kurz vor der Haustür wird der einsetzende Regen heftiger, die Straße ist menschenleer. Gut so, denkst Du Dir, da bemerkt wenigstens keiner das Wasser in Deinen Augen.
Montag, 27. März 2006
[uraufgeführt am 25. März 2006 anläßlich der 1. Fränkischen Bloglesung in Fürth.]
Die folgende Geschichte ist wahr und in jeder Hinsicht detailgetreu rekapituliert. Sie beginnt an einem harmlos erscheinenden Samstag im Winter 1997/98 (vielleicht auch 1998/99) frühmorgens im beschaulichen Forchheim (Oberfr.) und endet gut zwei Stunden später dortselbst mit einer für den Autor ziemlich schmerzhaften »Fränkischen Brühwurst« der überaus delikaten Sorte. Dazwischen liegen 120 Minuten voller Hektik in einer Art, wie sie sich nicht einmal ein öffentlich-rechtlicher Fernsehserien-Autor unter Drogeneinfluß einfallen lassen könnte. Doch gemach und immer der Reihe nach...
An jenem schicksalhaften Samstag Morgen stehen wir beizeiten auf, denn der Tag will gut genutzt sein: Der kindsköpfige zonebattler ist ganz scharf auf den Besuch einer Spielzeug-Sammlerbörse in Nürnberg, seine bessere Hälfte will indessen mit der Bahn nach Idar-Oberstein zu ihrer betagten Großmutter fahren. Mein Plan ist es, gemeinsam mit dem Auto aufzubrechen, die Freundin am Forchheimer Bahnhof abzuliefern und dann selbst gleich weiter in Richtung Nürnberg zu flitzen. Aber wie es immer so ist, es wird dann zeitlich doch etwas eng, und so springe ich letztlich nur mit Jogginghose, Sweatshirt und Birkenstock-Schlappen provisorisch bekleidet in die knuffige Renngurke, um die Lebensgefährtin gerade eben rechtzeitig in die Regionalbahn stopfen und verabschieden zu können.
Nach kurzem Hinterherwinken spurte bzw. schlappe ich zurück zum Wagen und fahre geschwind wieder nach Hause, um mich selber ausgehfertig zu machen. Doch kaum wieder daheim angelangt, vermisse ich meinen Hausschlüssel, den ich wenige Minuten vorher von außen in die Wohnungstür gesteckt hatte, um der nachfolgenden besseren Hälfte das Absperren zu erleichtern und wertvolle Sekunden Zeit einzusparen. Jedenfalls ist der Schlüsselbund jetzt nicht da. Nach panischem Absuchen sämtlicher Ablagen irrlichternden Blickes durchzuckt mich die schreckliche Erkenntnis, daß die per Stahlroß abgedampfte Freundin offenbar nicht nur das eigene Schlüsselmäppchen, sondern der Vollständigkeit halber auch noch das meine eingesteckt und mit auf die lange Reise genommen hat...
Heutzutage würde man bei sowas ungerührt das Handy zücken, die Situtation in Minutenschnelle klären und somit den Tag retten. Doch meine Geschichte spielt zu einer Zeit, da wir beide noch keine funkenden Handgurken haben, was mir sofort den Angstschweiß auf die Stirn treibt: Wie soll ich in unzureichender Bekleidung, ohne einen Pfennig Geldes in der Tasche die nächsten Tage bestreiten, ohne jede Aussicht, die eigene (gut verschlossene) Wohnung betreten zu können?
Sekunden später rase ich mit der Kraft eines pochenden Herzens in und dreier Zylinder hinter mir in Richtung Autobahn-Auffahrt: Ich habe mir eine winzige Restwahrscheinlichkeit ausgerechnet, die holde Schlüsselbewahrerin noch in Bamberg abfangen zu können, wo sie gute 20 Minuten Umsteigezeit zu verbringen hat. Kaum auf den Frankenschnellweg eingeschwenkt, trete ich das Gaspedal bis zum Anschlag nieder, um gen Bamberg zu rasen. Also was man halt so »rasen« nennt als Renngurkenfahrer.
Um die Erzählung abzukürzen und keine strafrechtlich relevanten Tatbestände aufzuwärmen, überspringe ich die folgenden vierzig Kilometer und setze wieder ein, als ich mit quietschenden Bremsen vor dem Haupteingang des Bamberger Bahnhofes zum Stehen komme, noch rasch die Warnblinkanlage aktiviere und hechelnd durch die Halle hechte, den Gleisen entgegen...
Tatsächlich bekomme ich den Regionalexpreß nach Frankfurt noch zu sehen, wenn auch nicht mehr zu fassen: Höhnisch zwinkern mir die roten Schlußlichter des ausfahrenden Zuges zu. Ätsch. Weg. Knapp daneben, aber eben doch vorbei. Sch...! Hilft aber alles nichts, es gilt, weiterhin dem Schicksal die Stirn zu bieten. Also zum Schalter oder vielmehr Service-Point geeilt, sich als Kollege ausgewiesen und die sofortige Alarmierung aller Fahrdienstleiter auf sämtlichen Unterwegshalten über Haßfurt und Schweinfurt bis Würzburg angeordnet erfleht. Man möge die Schlüsselfigur der Geschichte allerorten ausrufen und zur Umkehr bewegen. Großes Palaver, man werde sich bemühen, man werde sehen. Ich sehe auch etwas, nämlich die nahenden Grenzen meiner psychischen Belastbarkeit.
Für mich gibt es jetzt in der Domstadt nichts mehr zu tun, ich tuckere gemäßigten Tempos heimwärts. Es keimt die irre Hoffnung auf, die Herzensdame könnte das Gewicht zweier Schlüsselbünde inzwischen selbst bemerkt und die Situation erkannt haben. Und tatsächlich: Kaum fahre ich daheim wieder vor, kommt sie gerade aus dem Haus! Wie kaum zu erhoffen gewagt hatte sie sich noch rechtzeitig darüber gewundert, was da so schwer in beiden Jackentaschen links und rechts an ihr zerrte. Und während ich in Bamberg Himmel und Hölle rebellisch machte, saß sie schon wieder im nächten Zug nach Forchheim! Nach einem kurzen Zwischenstopp bei mir wollte sie gerade meinen Schlüsselbund für mich in des Vermieters Ladengeschäft im Erdgeschoß deponieren. O holde Glückseligkeit! Jetzt aber her mit meinem Schlüsselmäppchen und dasselbe nicht mehr aus der Hand gegeben!
Mit genau zweistündigem Abstand zum Erstversuch fahre ich erneut zum Bahnhof, den gleichen Weg, die gleiche Ladung. Hasten zum Zug, Gruß an die Oma, Klappe zu und ab dafür! Und abermals zurück zu meiner Wohnung: Inzwischen hat der Morgen dem Vormittag Platz gemacht und ich bin immer noch nicht in Nürnberg, was mag mir entgangen sein?! Ich beschließe, nicht noch mehr Zeit durch das ursprünglich geplante Wannenbad zu vertändeln, auch Duschen in der Badewanne unter der vorhanglosen Dachschräge wäre zu aufwendig, ach was, die Katzenwäsche von heute früh muß reichen. Nur noch schnell die Unterwäsche gewechselt und in die Klamotten vom Vortag gesprungen. Beim Sitzpinkeln wird sich zeitsparend rasiert und nebenbei der Entschluß gefaßt, zumindest ein Minimum an Intimhygiene walten zu lassen. Also nach dem Wasserlassen schnell den eigenen Wurmfortsatz ins Handwaschbecken des Gäste-WCs gehalten, den Hebel der Mischbatterie in Mittelstellung gebracht und aufgezogen. Schon rauscht es angenehm aus der Perlatordüse...
Waaaaaaaaaaaaaaaah!
Mein Schmerzensschrei gellt durch die Wohnung und durch das Treppenhaus hinaus über Stadt und Erdkreis. Das reflexhafte Herumreißen des Mischhebels auf Kalt-Anschlag bringt nicht die erhoffte Erleichterung, sondern verschlimmert im Gegenteil die Pein auf das Entsetzlichste. Ich hoppse heulend wie ein gebissener Storch durch die Diele und hinaus auf den Balkon, mir verzweifelt kalte Luft zufächelnd. Es dampft an mir von einer Stelle aus, die derlei noch nie getan hatte: erst nach Minuten ist das Schlimmste überstanden... Das sollte als Sühne für alle begangenen Sünden der letzten drei Jahrzehnte reichen! Ich fahre schließlich entnervt Richtung Nürnberg, will den Tag nicht einfach verloren geben. Ablenkung tut Not: Noch bis zum Abend juckt es erbärmlich an einer Stelle, an der man sich in der Öffentlichkeit schicklicherweise nicht kratzt.
Tja, wem hatte ich meine »Brühwurst« letzlich zu verdanken? Die bessere Hälfte hatte beim ungeplanten Zwischenstopp in meiner Wohnung einen steten Wasserverlust des WC-Spülkastens konstatiert, hervorgerufen durch eine schon länger verkalkte Gummidichtung. Verschwendung jeglicher Art ist meiner Freundin ein Greuel: Da die lästige Leckage auf die Schnelle nicht anders zu stoppen war, hatte sie kurzerhand und ohne weiteres Nachdenken den Kaltwasser-Haupthahn der Wohnung komplett zugedreht, womit der Rinnverlust zum Erliegen kam. Daß sie damit gleichzeitig eine schier lebensgefährliche Falle für mich aufgestellt hatte, war ihr tatsächlich nicht in den Sinn gekommen: Vielleicht hätte sie mir sonst eine Tube Senf ans Waschbecken gestellt!
Süßer und scharfer Senf: