Das Führen eines Weblogs, also abgekürzt das Bloggen, ist nach gängiger Meinung ein relativ neumodischer Hype, mittlerweile angeblich sogar ein bereits wieder abflauender solcher. Im Nachhinein betrachtet kann meiner einer mit Fug und Recht behaupten, bereits in den späten 1970er Jahren – zusammen mit einer Handvoll Schulkameraden – das Bloggen in seiner heutigen Form erfunden zu haben, komplett mit chronologisch gereihten Artikeln, fortlaufend nummerierten Kommentaren, Kreuz- und Querbezügen sowie allerlei eingebundenen Bildern und Medien. Und das alles ohne Strom, ohne Computer und ohne Internet, an das ja damals noch keiner dachte. Die nachgerade visionäre Geschichte sei nachfolgend erzählt!
In den letzten Schuljahren vor dem Abitur hatten wir einen Religionslehrer, bei dem pädagogische Neigung, Motivationsfähigkeit und persönliche Autorität jeweils unterhalb der Nachweisbarkeitsschwelle lagen, also allenfalls in homöopatischer Dosierung vorhanden waren. Theologisch sattelfest mag der Mann dagegen gewesen sein, was ihn erhobenen Hauptes sein Lehramt ausüben ließ: Die Aussicht auf einen Platz im Paradies ließ ihn sein Kreuz tragen, das Abhalten von Unterricht war für einen Mann seines Schlages zweifellos das persönliche Martyrium...
Um uns renitenten Schölern und subversiven Subjekten den Unterricht halbwegs erträglich zu gestalten, diente uns das Fach Religion naturgemäß in besonderem Maße dem Gedankenaustausch, wenn auch auf andere Weise als vom Lehrer vorgesehen: Wir schwätzten wie schnatterhafte Erstklässler und untergruben damit die ohnehin nicht vorhandene Autorität der armen Lehrkraft auf das Schamloseste. Immerhin bewiesen wir irgendwann ein Restmaß von Erziehung und Kinderstube, indem wir den geräuschbehafteten Diskurs verschriftlichten und allerlei Notizen auf Zettel (insbesondere auch auf Löschpapier) schrieben, die wir uns als Kassiber weitgehend lautlos zuschoben. Das blieb natürlich auch nicht unbemerkt, aber der Pädagoge ließ in ebenso stummer wie verzweifelter Komplizenschaft fürderhin uns in Ruhe und wir ihn.
Meine Mutter arbeitete damals im Büro eines Bauunternehmens und brachte mir von dort eines Tages ein paar unbenutzte Papierrollen mit, wie sie seinerzeit in elektromechanischen Tischrechnern weite Verwendung fanden: Eine neu beschaffte Rechenmaschine benötigte Protokollierpapier in einem anderen Format, wodurch der vorhandene Restbestand an Rollenware für die ausgemusterten Vorgängerin überflüssig geworden war. Man ahnt, wie es weiterging: Eines Tages hatte ich die gloriose Idee, das spätpubertäre Palaver der vom Religionsunterricht angeödeten Kindsköpfe von der Loseblattsammlung auf die Rolle zu bringen. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten: Das kuriose Teil wurde sofort allgemein akzeptiert und diente fürderhin als Grundlage der außercurricularen Kommunikation im Fach der katholischen Religionslehre.
Den einsatztechnischen Erfordernissen folgend, implementierten wir bald allerlei Verbesserungen: Sehr schnell wurde es beispielsweise unpraktisch, zu Beginn der Religionsstunde den bereits beschrifteten Teil der Rolle auf- und abzuwickeln, um bis zum unbeschrifteten Teil zu gelangen und dort weiterzumachen. Wir lösten das mit Wäscheklammern, die den bereits beschriebenen und zu einer neuen Wicklung gerollten Teil sicher zusammenhielten. Ferner erwies es sich vom Start weg als diffizil, auf zurückliegende Äußerungen zu rekurrieren und diese zu referenzieren, weswegen wir darauf verfielen, die Beiträge – rückwirkend bis zum Anfang – feinsäuberlich und gut erkennbar zu nummerieren.
Solcherart verfeinert, wurde das inzwischen auf den Namen »Kommunikationsrolle« getaufte Konstrukt nach Art indianischer Friedenspfeifen von einem Diskutanten zum anderen gereicht und nach schriftlicher Kommentarabgabe weitergegeben. Das Bild von der Friedenspfeife ist freilich insofern mißverständlich, als es Harmonie und Sittsamkeit im Umgang miteinander suggerieren mag. Von beidem indes konnte nicht die Rede sein: Wir verfaßten infantile Schmähtiraden aufeinander, die in dreieinhalb Dekaden Abstand erneut zu entziffern mitunter nachgerade peinlich ist. Auch das muß freilich als prophetische Vorwegnahme einer fernen Zukunft gelten, wie der Vergleich mit vielen virtuellen Diskussionsplattformen der Neuzeit anschaulich beweist!
Ein eineinhalb Jahre nach dem Abitur unter dem Namen »Meditationsrolle« aufgesetztes Folgeprojekt mit teilidentischem Teilnehmerkreis konnte an den Erfolg des Vorläufers nicht mehr anknüpfen: Zu weit auseinander lagen die Lebensentwürfe und die Wohnsitze der Schreiber, zu lange waren die Pausen und zu teuer das Porto im analogen Zeitalter. Geschadet hat uns übrigens diese sozialverträgliche Kanalisierung des juvenilen Kommunikationsbedürfnisses nicht: Der eine meiner regelmäßigen Co-Autoren hat später das mp3-Musikkompressionsverfahren maßgeblich (mit-)erfunden, der andere pilotiert Jumbo-Jets um den halben Globus, ein Gast-Autor (auch das gab es damals bereits) führt heute ein innovatives HighTech-Unternehmen an vorderster Front der Forschung. Ich selbst habe es ja immerhin bis zum zonebattler gebracht…
Wie die eingestreuten Fotos dokumentieren, habe ich die wertvollen Zeitzeugnisse bis heute aufbewahrt, möglicherweise in unterbewußter Antizipation ihrer späteren historischen Relevanz. Für eine adäquate Präsentation im Rahmen einer öffentlich zugänglichen Dauerausstellung schwebt mir ein minimalistischer Museumsbau von etwa drei Metern Breite und Höhe sowie ca. 100 Metern Länge vor: In der Mitte des Raumes würden die entrollten Papierbahnen auf einer schmalen Mauerreihe von ca. 1,20 Metern Höhe unter Glas gezeigt und dem interessierten Publikum die Gelegenheit gegeben werden, sich vom verblaßten Anfang bis zum vergilbten Schluß durch die dadaistische Traktatensammlung zu lesen.
Neben eher banalen Aktivitäten wie Standortauswahl, Grundstückserwerb, Baugenehmigungsantrag, Trägervereinsgründung etc. bereiten mir derzeit noch die ungleich diffizileren Fragen konservatorischer, datenschutzrechtlicher und unternehmerischer Art einiges Kopfzerbrechen: Wie muß man die fragilen Exponate lagern, belichten und belüften, um sie auf Dauer der Nachwelt erhalten zu können? Muß man zur Wahrung von Persönlichkeitsrechten eingestreute Eigennamen unkenntlich machen? Kriegt man für den gewinnorientierten Abverkauf im angegliederten Museumsshop heutzutage überhaupt noch Registrierkassen-Rollenpapier organisiert, welches eben nicht für Thermodrucker gedacht ist, sondern zur ambulanten Beschriftung mit Bleistift oder Kuli geeignet ist? Alles nicht so einfach! Die Personalfragen immerhin sind bereits geklärt: Die Stellen von Direktor, Kurator, Museumsführer, Hausmeister und Putzmann besetze ich in Personalunion alle selbst, Betriebsrat und Gleichstellungsbeauftragte wären damit schon konzeptionellerseits obsolet.
Sobald ich auf diese Fragen befriedigende Antworten gefunden habe, werde ich mich mit ganzer Kraft diesem noblen (und überdies künstlerisch außerordentlich wertvollen) Ausstellungsprojekt widmen und dieses Blog hier schließen. Selbstreferentielle Spielwiesen wie diese gibt es im digitalen Zeitalter mehr als genug: »Kommunikationsrolle« und »Meditationsrolle« als ihre analogen Vorläufer und Urahnen hingegen nur je einmal!
Das ist ja klasse! Danke für die sehr schöne Geschichte und das Zeigen dieser Kostbarkeiten.
#1
Bitte, gerne. Kostet nur EUR 3,50 für einen Erwachsenen ohne Hund, aber ich habe leider noch keine Rolle (!) mit abrupfbaren Eintrittskarten zur Hand...
#2
Dann schleiche ich mich als Hund hinein.
#3
Wohl doch eher als Schlaufuchs!
#4
Als Museumsbau würde ich die Luisenunterführung hernehmen. Passt von den Maßen her ziemlich gut, ist in der Nähe, das Putzen übernimmt die Stadt (manchmal) und der Eintritt dient gleichzeitig als Wegezoll ;-)))))))
#5
Und ich hätte es nur zwei Fußminuten von daheim bis in die Arbeit. Geniale Idee! ;-)
#6
Ich hatte meine Lehre in einer Firma begonnen, in der die Tischrechner-Papierrollen nach Gebrauch wieder aufgerollt wurden um die Rückseite zu verwenden. Das war nicht ganz einfach und verlangte Geschick beim Einlegen der gebrauchten Rolle. Vor allem musste der Streifen am Stück erhalten bleiben. Ich war es allerdings gewöhnt, das Resultat eines längeren Additionsvorgangs abzureissen und Kassendifferenzen so auf die Spur zu kommen. So erntete ich jedesmal böse Blicke ob der Zerstörung wertvollen Bürorohstoffs. Nach sechs Wochen zog man es vor, sich von mir zu trennen (angeblich aus anderen Gründen).
#7
Wie konntest Du auch Wahrhaftigkeitsstreben über Beständigkeit stellen! So einen Anarchisten hat keiner gern in seiner Belegschaft...
#8
Ich hatte in einem Anfall von Ironie gefragt, ob man das Toilettenpapier auch beid-seitig... Naja, man war jung.
#9
Du hättest anregen sollen, das Tischrechner-Papier nach rückseitiger Bedruckung in die Stoffwechselstuben zu transferieren und dort zumindest einer einseitigen, in Summe aber dritten Nutzung zu unterziehen: Das hätte Dir nicht die Kündigung, sondern fraglos eine rasche Beförderung eingetragen!
#10
Zugegeben, das ist mir nicht im Traum eingefallen. Alleine schon wegen der doch eher rudimentär ausgeprägten Saugfähigkeit...
#11
Dann warst Du offenbar noch nie im Vereinigten Königreich: Was mir früher in Großbritannien an einschlägigen Papierqualitäten unter die Finger gekommen ist, da konnte sich unsereins nur wundern. Insbesondere in öffentlichen Einrichtungen wie Museen etc. fanden sich bizarr pergamentartige Sorten, deren Saugfähigkeit gleich Null war. Allerdings mag es sein, daß die englische Küche auf Dauer zu einer Veränderung des Stuhlgangs führt, die saugfähiges Toilettenpapier obsolet macht...
#12
Mein letzter Aufenthalt in London liegt sehr viele Jahre zurück – insofern gibt es in dieser Hinsicht keine Erinnerung. Schlimmer als das in den 90ern Jahren kurzfristig mal gehypte Ökoschmirgel kann es demnach kaum gewesen sein.
#13
Auch meine London-Besuche liegen schon Jahrzehnte zurück; an das Klopapier kann ich mich trotzdem noch gut erinnern, zumal ich damals Proben eingesammelt und mitgenommen habe (ungebrauchte natürlich), um sie daheim der staunenden Familie vorzuführen...
Übrigens (und damit schwenke ich zurück zum Thema meines obigen Artikels) führen wir hier in virtueller Form eine mäandrierende Debatte genau jener Art, wie wir sie damals auf dem Papier der »Kommunikationsrolle« führten. Wobei die moderne Variante insofern sogar rückschrittlicher ist, als nicht sofort der jeweilige Autor am Duktus seiner Handschrift (oder seines Gekrakels) zu erkennen ist. Das hatte auch seinen (nicht nur visuellen) Reiz, wie auf den Fotos ansatzweise zu erkennen ist.
#14
Ich folge dieser Diskussion mit größtem Interesse, obgleich ich zuweilen aus mir unerfindlichen Gründen an die zwei Bögen 80er Schleifpapier in meiner bescheidenen Werkstatt denken muss.
#15
80er trifft es aber nicht, das englische Toiletten-Papier hatte noch nicht mal 800er-Körnung: es war nachgerade glatt und transparent wie Pergament-Papier! Ich wähne meine weiland botanisierten Proben noch in meinem Besitz, zusammengefaltet in irgendeinem Museumsführer. Werde ich heraussuchen und Dir bei passender Gelegenheit vorführen (fast hätte ich geschrieben: unter die Nase reiben)...
#16
Will jemand das letzte Wort haben? Dann besteht hier und jetzt die allerletzte Gelegenheit dazu: In 20 Minuten schließe ich die Kommentarfunktion und drehe damit sämtliche Senftuben dauerhaft zu. Dann also: Die letzten Bestellungen bitte!
#17