Ich bin weder deprimiert noch depressiv, registriere mithin heute ohne Zorn und Verbitterung, daß ich über den Zenit meines Lebens hinaus bin (schon rein rechnerisch spricht alles dafür, obwohl ich durchaus kein Fall für das Buch der Rekorde wäre, wenn ich nochmal soviele Jahre lebte wie ich jetzt schon auf dem krummen Buckel habe). Die Sehkraft beginnt langsam nachzulassen (wiewohl ich immer noch mehr erspähe als die meisten anderen und meine Arme noch lang genug ausstrecken kann, um bedruckte Blätter weit genug zum unbebrillten Lesen von mir halten zu können), die benötigten Ruhephasen werden länger, ich nehme meinen Körper mitunter deutlicher (und ächzender) wahr als früher.
Nicht, daß ich schon echte Gebrechen hätte: Ich verdaue auch eher dubiose Buffets klaglos, von denen andere am Morgen danach das große Kotzen kriegen. Ich renne die 66 Stufen zu meiner realen Homezone mehrmals täglich rauf und runter, ohne nennenswert ins Schnaufen zu kommen. Mir tropft der Pimmel nicht und die Nase nur selten, ich mache mir keine Sorgen um Krebs, Diabetes und drohende Demenz. Aber ich spüre dennoch, daß es die Rampe runter geht, wenngleich noch in gemächlichem Tempo und nur unmerklich beschleunigend. Ich mache mir freilich keine Illusionen.
Indes, das geschärfte Bewußtsein für die eigene Endlichkeit hilft mir auch über manche Torheit hinweg: Ein Kratzer am Auto, von einem flüchtigen Idioten verursacht? Geschenkt! Die Zeiger der neuen Uhr sind um sechs und um zwölf Uhr nicht perfekt in Fluchtung bzw. Deckung? Sei’s drum! Der Schuber der vier edlen Leinenbände hat eine gestauchte Ecke? Na wenn schon! Der schon zu Kinderzeiten kultivierte (und reichlich überschärfte) Sinn für Perfektion im Detail ist mir zwar nicht völlig verloren gegangen, aber ich kann inzwischen ganz gut (und immer öfter) fünfe gerade sein lassen. Weil ich ja dermaleinst doch nix mitnehmen kann, weder ins Jenseits noch ins Nichts, was immer mich erwartet. Mit dem (ohnehin seit jeher vergeblichen) Bemühen um Perfektion im Hier und Jetzt geht mir interessanterweise auch die Angst vor dem Tod verloren, wenngleich nicht unbedingt die vor dem Sterben, zumal dem langsamen und qualvollen. Aber nachdem sich das Universum bislang fast immer schon mir geneigt gezeigt hat, bin ich auch in dieser Hinsicht guten Mutes.
Ich glaube, ich sehe der persönlichen Zukunft so entspannt entgegen wie nie zuvor. Das heißt nicht, daß ich nicht zuweilen arg unleidlich wäre, weil ich mich durch berufliche Kalamitäten gestreßt oder durch private Malaisen genervt fühle. Aber es wächst jenseits der Tageslaune doch eine entspannte Grundhaltung in mir heran, weil ich weder mir noch anderen noch der ganzen Welt was beweisen muß.
Ich muß auch nicht alles sehen, alles hören, alles wissen, überall mal gewesen sein: Ich kann vieles imaginieren, und wenn ich heute die Wahl habe zwischen einem bunten Feuerwerk im Stadtpark und einem kleinen Nickerchen auf der Couch, dann erscheint mir das Dösen auf dem Sofa nicht selten als die attraktivere Alternative. Was wiederum nicht heißt, daß mir die Neugier und die Lust auf Experimente abhanden gekommen wäre: Erst vorgestern bin ich mit einem Segway durch die Bamberger Altstadt gehoppelt und habe das sehr genossen. Neugier hält jung!
Wer jetzt ein allgemeingültiges Fazit oder auch nur ein kluges Resumee erwartet, den muß ich leider enttäuschen: Ich kenne kenne kein Patentrezept zum Umgang mit dem Alter, dem Verwelken, dem Tod. Ich denke freilich, daß man sich beizeiten ins Unabwendbare fügen und gelassen hinnehmen sollte, was ohnehin nicht zu ändern ist. Demut ist das Gebot der Stunde, und es ist ja auch irgendwo nicht nur tröstlich, sondern auch in Ordnung, daß man selbst – wie alles andere auf der Welt – dem Zyklus von Werden und Vergehen unterliegt. Ob danach noch was kommt oder nicht, ist Glaubenssache. Wenn man Mahlers Zwote hört, ist man geneigt, die Auferstehung als alternativlos anzusehen. Oder ist das letztlich nur eine – allzu menschliche – Illusion, aus Angst und Wunschdenken geboren? Man wird sehen (oder auch nicht). Ich jedenfalls bin durchaus auf das eigene Ende neugierig, aber es hat damit noch etwas Zeit...
Ach zonebattler....
Du wirst halt einfach alt. ;) (Aber nicht welk)
Schau mein Vadder an, über 35 Jahre auf der Baustelle. Abends kam er heim, Füße hoch, Bierchen auf und die Kippe in der Goschn. Haushalt? Macht die Mutter.
Jetzt ist er Renter, zum militanten Hausmann (Hausrentner) mutiert, Küchenverbot für Muttern. Putzeimer werden ihr entrissen....
Willst Du das? Willst Da das wirklich? ;)
** Ironie aus**
Sag ihm das bloß nicht!
#1
Akzeptanz, Loslassen, die Erkenntnis, dass man nichts erzwingen kann und das intensive Erleben auch kleiner, alltäglicher Dinge: Du gehst den besten Weg des inneren Friedens.
#2
...»das intensive Erleben kleiner, alltäglicher Dinge«... das ist das was den meisten bei ihren schneller-höher-weiter-Orgien vollends abhanden gekommen ist. Wer sich dagegen im Garten über junge Eidechsen freut wird als nicht ganz dicht abgestempelt. Schade, aber is so...
#3
Das ist einer deiner besten Beiträge, lieber zonebattler: Persönlich, nachdenklich und gut geschrieben. Allen Respekt.
Nicht, dass ich den Rest deswegen abqualifizieren möchte, aber dieser Beitrag hat aus mir stillen Leser (mal wieder) einen aktiven Sempfer gemacht.
Danke für deine oben ausgedrückte Offenheit. Das macht die virtuelle Homezone zu einem der seltenen schattigen Plätzchen im grellen Internet und in der Blogosphäre.
Besten Gruß.
#4
Ich bin gerührt und erfreut darüber, mich von Euch verstanden zu sehen. Danke!
#5
Danke Dir für die offenen Worte!
Es mag vielleicht ein bisschen weit hergeholt wirken, doch angesichts einiger Stellen in Deiner Darstellung hätte auch die Überschrift »Neuanfang« gepasst :-)
#6
Ja, ich danke auch, bin als fast genau gleichaltrige mit fuerther mutter und libero zu sehr aehnlichen schluessen gekommen bis jetzt auf einmal (natuerlich nicht auf einmal sondern schon laenger) es so aussieht als ob die welt(wirtschaft) es mir nicht mehr erlauben will mich an den kleinen dingen zu freuen und das leben etwas lockerer zu sehen als noch vor 10 jahren vielleicht. hier in griechenland (und bald auch an vielen anderen stellen) merken wir gerade dass sich vor uns ein ziemlich grosses schwarzes loch auftut, dass die eingezahlten rentenbeitraege uns vielleicht ueberhaupt keine rente zahlen werden und dass man freude im kleinen schlecht sehen kann wenn man jeden tag mit hiobsbotschaften bombadiert wird, freunde und bekannte die arbeit verlieren. fazit: zum gelassen bleiben braucht man eine ausreichende soziale und finanzielle sicherheit. gruss aus athen, marianne
#7
Tja, das mit der finanziellen Sicherheit ist so eine Sache: Wenn es im schlimmsten Fall zu einem Währungsschnitt kommt, dann sind meine Ersparnisse (und damit die Ruhe) womöglich dahin! Ungerechterweise haben ja die am meisten zu befürchten, die dank bescheidenen Lebensstils und umsichtigen Wirtschaftens etwas zu verlieren haben! Wer sein Geld indes verpulvert und immer hart an der Kante lebt, den jucken wirtschaftliche Turbulenzen naturgemäß weniger...
Hier wie dort wird diskutiert, ob uns der Kapitalismus nicht notwendigerweise ins Verderben führt, weil er systemimmanenterweise eine Spaltung der Gesellschaft in wenige immer Reichere und viele immer Ärmere betreibt. Wenn denn die Diagnose stimmt, was wäre die Therapie?
Natürlich kann man als Einzelne(r) wenig ausrichten, allenfalls sich selbst treu bleiben und ein gutes Beispiel zu geben versuchen. Wegschauen hilft auch nicht wirklich, aber was bliebe einem selbst im worst case übrig, als sein Leben und seine Existenz auf neue Beine zu stellen? Das kann hart werden, zumal im fortgeschrittenen Alter; langweilig wird es mit Sicherheit nicht. Und für Herausforderungen ist man nie zu alt!
#8
und hier. Selbst wenn man gerne wegschauen wuerde und der lebenstil immer bescheiden war und einen herausforderungen noch nie geschreckt haben ist es eine situation die wir so noch nicht erlebt haben, denn sie ist weder einschaetzbar noch real genug um zu reagieren. man sieht zu, denkt ich habe mir schon lange geahnt dass das nicht gut gehen wird aber insgeheim doch gedacht dass all die weisen die die wirtschaft steuern sich was dabei dachten und jetzt, dachte scheinbar doch keiner was und dann beispielen der ueber 40% jugendarbeitslosigkeit in die augen sehen wenn man selbst (noch) einen job hat. schuldigung, wollte dir nicht das wochenende verderben, das hoffentlich ein schoenes wird.
#9
Du hast absolut recht. Die momentanen Entwicklungen sind ebenso beispiellos wie brandgefährlich (ich kannte übrigens auch den von Dir verlinkten Spiegel-Artikel schon). Und wenn die Gesellschaft weiterhin so auseinanderdriftet, tangiert uns das alle (schon deshalb, weil man dann irgendwann Angst haben muß, noch auf die Straße zu gehen). Da sind Entwicklungen im Gange und Kräfte am Werk, gegen die der Einzelne, der besonnene zumal, wenig auszurichten imstande ist. Was bleibt übrig? Integrität und Haltung zeigen, Stellung beziehen, konsequent zu seinen (altmodischen) Prinzipien stehen und danach handeln. Auch wenn es im Mahlstrom der Megatrends rührend bist lächerlich anmuten mag.
#10
Pressespiegel: »Die beste Lösung des Unlösbaren« (Stützen der Gesellschaft)
#11