Nachdem der zonebattler und seine bessere Hälfte im Frühjahr reichlich Gelegenheit zur Körperertüchtigung gehabt hatten, sollte die allfällige Spätsommer-Exkursion der Abwechslung halber doch eher dem Training von Geist und Hirnschmalz dienen. Außerdem war längst wieder eine Campingreise mit der Renngurke fällig, um sich eine Weile in Demut und Bescheidenheit und nach Art der U‑Boot-Fahrer in einem nachgerade asketischen Lebensstil zu üben. Also ward beschlossen (wenn auch nicht groß verkündet), die weite Fahrt ins Ruhrgebiet anzutreten: Deutschlands größter Ballungsraum wartet mit reichlich industriegeschichtlichen Sehenswürdigkeiten und bedeutenden Kunstmuseen auf, die den Titel der Kulturhauptstadt Europas 2010 als allemal gerechtfertigt erscheinen lassen. Wie üblich war der kleine GPS-Tracker mit von der Partie, was mir nun die nachträgliche Visualisierung der zurückgelegten Route auf der Landkarte ermöglicht:
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Großfassung 1070 x 680 Pixel
Wir starteten in Fürth am Morgen des ersten September-Samstags und trafen nach etwa fünf Stunden weitgehend ereignisloser Marschfahrt [1] im schönen Soest ein, woselbst wir Freunde mit Haus, Garten und Hund besuchten und uns übers Wochenende bei ihnen einnisteten. Am Montag Morgen ging es dann frühzeitig weiter und das eigentliche Abenteuer los... [2]
Erste Haltestation war das nordöstliche Ufer des Hengsteysees, von wo aus wir zur nahen, aber hochgelegenen Syburg wanderten. Gleich nebenan guckt Wilhelm I. über das weite Land und hat sich über die Jahre grün geärgert über seine ihn mittlerweile weitgehend ignorierenden Untertanen:
Vielleicht ist er aber auch immer noch verstimmt über den plumpen Geschmack der braunen Kulturverweser, die seinen weiland gründerzeitlichen Schnörkelgarten in den 1930ern zu einem kalt-abweisenden Monumentalkonstrukt verhunzten...
Wieder unten angelangt, fand sich nach dem ambulanten Mittagsmahl zwischen den nahgelegenen Siedlungen Hengstey und Bathey endlich das langesuchte und ‑ersehnte Spätsommermotiv für ein jahreszeitlich passendes Desktop-Hintergrundbild:
Wenige Minuten und Streckenkilometer später gelangten wir in die Innenstadt von Hagen, welche wir per pedes und sehr ausführlich inspizierten. Hier wie später andernorts in den Städten des Ruhregebiets fiel uns auf, daß dort richtige Italiener mit Berufsehre im Leibe hervorragendes Speiseeis zubereiten und zu fairen Preisen feilbeiten: 80 Cent pro üppig bemessener Kugel in einer knusprigen Waffel und dazu noch ohne künstliche Aromen, das ist in Nürnberg und Umgebung beileibe keine Selbstverständlichkeit mehr! Womöglich handelt es sich dabei um eine kulinarische Spätfolge der Gastarbeiter-Schwemme in den Industriezentren zu Zeiten des Wirtschaftswunders?
Weiter ging der Weg über das erstaunlich beschauliche Land bis nach Hattingen, dessen vielgerühmte Altstadt aus Fachwerkhäusern uns ebenfalls eine ausgiebige Erkundung zu Fuß wert war. In der Tat hätten wir nicht erwartet, dort oben in Deutschlands weiland stark industrialisiertem Westen so viel pittoreskes Fachwerk anzutreffen. Dieses zeigt sich zwar eher streng und weniger verspielt als die fränkische Bauweise, weiß aber trotzdem sehr zu gefallen. Nicht weniger originell sind übrigens die örtlichen Einzelhandelsgeschäfte, in denen man neben allerlei Tinnef beispielsweise modische Tarnanzüge für seine Vierbeiner erwerben kann:
Auch sonst gibt es allerlei Eigenwilliges zu sehen in der wirklich putzigen Hattinger Altstadt. Das finden freilich nicht alle lustig, manch einer wendet sich sogar peinlich berührt und mit Grausen ab:
Eine Sekunde lang habe ich die beiden Gnome tatsächlich für echt gehalten...
Der Abend nahte. Wir versorgten uns noch mit ein paar Lebensmitteln (insbesondere kühlbedürftigen solchen wie Milch und Käse, die die Nacht über neben dem Auto ausharren und aushalten müssen) und begannen im Umland mit der Suche nach einem Stellplatz für die Nacht. Nach einigen Irrwegen [3] bezogen wir schließlich auf einem großen Platz hinter einer Großgärtnerei und vor der Einfahrt zu einer großen Biogas-Anlage Posten. Sehr angenehm, da ruhig und mit asphaltiertem Untergrund, ein rares Komfortmerkmal auf unseren motorisierten Exkursionen. Mit routinerten Handgriffen wurden alsbald die Klamottentaschen, die Küchen- und die Waschkiste nach vorne in das Cockpit verfrachtet und der hintere Teil des treuen Minibusses damit zum Wohn- und Schlafzimmer umgewidmet. [4] Der einsetzende Regen machte das Hausen in der beschützenden Eierschale aus Glas und Blech so richtig gemütlich...
Soviel zu den ersten drei Tagen der Reise, von denen ja recht eigentlich nur einer eine Expedition ins Unbekannte war. In der nächsten Folge wird es dann schon mehr zu berichten geben!
[1] von der obligatorischen Entwässerungspause mal abgesehen...
[2] Bewaffnet waren wir übrigens mit dem dicken und fast schon zu umfangreichen »RuhrKompakt« Reise- bzw. »Erlebnisführer«. Die telefonbuchdicke Schwarte ist zu schwer zur Mitnahme auf Wanderungen und Spaziergänge, aber sie ist auch überaus informativ, thematisch sehr umfassend und noch dazu billiger als die meisten Konkurrenzprodukte.
[3] Man braucht bei unserer Art des improvisierten Herumzigeunerns regelmäßig ein paar Tage Übung, bis man wieder ein Gespür und einen Blick für gut geeignete Übernachtungsplätze in der freien Wildbahn bekommt...
[4] Wie immer hatten wir unten Isomatten und Wolldecken auf die beiden umgeklappten Rückbänke gelegt und ansonsten die regulären Federbetten von daheim mitgenommen. Im eigenen Bett schläft es sich ja bekanntlich allemal am besten!
Da habt ihr ja nur um wenige Kilometer die Heimsteppe des Gnus verpasst.
Ich hoffe mal, dass dein Reisetagebuch weiter dazu beiträgt diese unterschätzte Region in all ihren Reizen populärer zu machen.
#1
Ich werde mir Mühe geben, denn wir waren von der Gegend sehr angetan!
#2
Downtown Hagen zum Auftakt? Hut ab!, ihr geht ja wirklich dahin, wo’s wehtut. Bei dir hätte ich eigentlich den Hagener Impuls als Antrieb für Erkundungen erwartet. (Der Hohenhof ist sehr sehenswert. Beim nächsten Mal dann.)
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Also, das ekligste Eis meines Lebens hab ich bei einem Italiener in Witten-Annen gegessen …
Ich hatte eigentlich nicht das Gefühl, dass die italienischen Gastarbeiter an Rhein und Ruhr tiefere Spuren hinterlassen haben als in Franken. Im Gegentum: Bei uns in Schoppershof hatten wir sieben italienische Restaurants im Umkreis von 10 Gehminuten, von denen mindestens die Hälfte so aussah, als ob sich damit jemand nach seiner Zeit bei MAN selbstständig gemacht hat. Allerdings stammen nicht wenige der Gelaterien an Rhein und Ruhr aus Zeiten vor dem ersten Anwerbeabkommen. Manchmal findet man drinnen ein gerahmtes Foto an der Wand, das Opa in unscharfem Sepia an seinem ersten Eiskarren zeigt. Aber eh ich hier in den Vortragsmodus schalte, verweise ich lieber auf die beiden Wikipedia-Artikel zu Eisdiele und Gelatiere.
Was alles nicht erklärt, warum die Eisdealer innerhalb der Nürnberger Stadtmauer durch die Bank so bescheiden sind. Und außerhalb eigentlich auch. Wo haben wir in unserem fränkischen Jahr gescheites italienisches Eis bekommen? Am Mögeldorfer Plärrer (Cristallo), in der Maxfeldstraße beim Stadtpark (Name entfallen, Google verrät ihn nicht, neben Fahrschule Neun, winziger Laden, »Glück-auf«-Eisdiele, wie man an der Ruhr sagen würde: wenn man Glück hat, ist sie auf), in Zirndorf (Name auch vergessen, Google schweigt nochmal, am Markt, neben Schuhhaus Wigner in der Nürnberger Straße).
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Historische Altstädte im Ruhrgebiet mit nennenswertem Bestand von vor 1870 kannst du aber an einer Hand abzählen, und sie befinden sich durchweg an der Peripherie: Hattingen, Langenberg, Werden, Westerholt.
Ironischerweise sind sie lebendiger als die Industrie. Letztere ist inzwischen museal geworden, oder nach China weitergezogen – buchstäblich –, um dort die Gegend zu verhunzen und die Menschen krank zu machen. Aber was die Walze der Industrialisierung nicht geschafft hat, wäre beinah den Städtebauern in den 70ern gelungen: Alles plattzumachen. Steele zum Beispiel ist durch die Flächensanierung bis auf ein paar kümmerliche Überreste verschwunden und durch Beton ersetzt worden. Für Langenberg waren die Pläne auch schon fertig, samt Überdeckelung des Deilbachs zwengs Straßenbau. Da haben die Bewohner allerdings heftigst aufgemuckt. In Hattingen war es ähnlich, nur dass die Planungen dort noch nicht so weit gediehen waren. Manchmal nützt Widerstand. Aber wem erzähl ich das.
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Ansonsten warte ich gespannt auf die nächsten Folgen: Wie sieht ein Franke das Ruhrgebiet? (Auch wenn ich direkt nebenan aufgewachsen bin – ich kenne es umehrlichzusein auch nur als Tourist und erst seit Ende der 80er, als ich anfing die Gegend per Akkutriebwagen zu erkunden, immer schön durch die Hinterhöfe. Als Wuppertaler war man eher mit Chemie und rasselnden Webstühlen vertraut und orientierte sich in der Freizeit durchweg Richtung Düsseldorf und Köln, höchstens noch ins Niederbergische. Und daran sind nicht unbedingt und nur die schlechten Nord-Süd-Verbindungen zwischen Wupper und Emscher schuld.)
#3
Ich muß zugeben, daß ein Gutteil der (nicht nur in Hagen) versäumten Highlights meiner mangelhaften Reisevorbereitung anzulasten ist (die ihrerseits ihre Ursache in meiner generellen Planungsunwilligkeit hat). Andererseits ist der Kopf auch so bis zur Überlaufmarke mit Eindrücken vielfältigster Art gefüllt und überdies beschlossen worden, daß es eine zweite, wenn nicht gar dritte Expedition in diese Gegend braucht, um der Fülle des Sehens- und Erlebenswerten dort auch nur annähernd gerecht zu werden Herzlichen Dank daher für Deine profunden Tipps und Hinweise!
P.S.: Just in Hagen hat uns eine sehr freundliche und zuvorkommende Einheimische gefragt, wo wir denn wohl hin wollten, uns aber dann hinsichtlich der erhofften Jugendstil-Relikte lachend beschieden, es gäbe davon rein gar nix mehr...
#4
Beim Durchblättern der heute eingesammelten »Zeitkunst«, einer Monatszeitung für Kunst & Kultur, hat mich soeben schier der Schlag getroffen: Ein Artikel über den mir bis dato nicht geläufigen Künstler Thomas Rentmeister ist mit einem mir sehr bekannt vorkommenden Motiv illustriert. Kaum zu glauben: Sollten die beiden Kinderfiguren, die ich weiland in Hattingen abgelichtet hatte, wirklich kein Allerweltskitsch, sondern Kunstwerke sein? Die Ähnlichkeit bis ins Detail ist jedenfalls frappierend! Aber stellt man teuere Unikate bei Wind und Wetter nach Draußen, wo sie ausbleichen oder gar geklaut werden können? Der Zeitungsartikel verrät des Rätsels Lösung: Der Künstler hat die Puppe auf einem Flohmarkt gefunden, es handelt sich ganz offenkundig also um ein Industrieprodukt. Das kleine Mädchen hat demnach viele Zwillingsschwestern gehabt...
#5
Pressespiegel: »Rätsel um gruselige Kinderpuppen ist gelöst« (STERN.DE)
#6